„Nach der Wahl wird von Bayern aus ein Raumschiff starten“

Verkehr, Energie, Flüchtlinge: Wo die CSU besonders konservativ sein will, vergrault sie Wähler, sagt Ex-Biermösl-Blosn Hans Well. Der Musiker vertritt das andere Bayern. Interview von Tobias Timm ZEIT ONLINE vom 09.Oktober 2018

Hans Well wohnt mit seiner Frau in einem alten, von ihm selbst sorgsam restaurierten Haus im oberbayerischen Zankenhausen. Die Sonne scheint, in der Ferne sieht man die Alpen mit der Zugspitze, der Ammersee ist ganz nah. Den „blassen See“ habe Lion Feuchtwanger den Ammersee in seinem Roman „Erfolg“ genannt, sagt Well dem Besucher in einem Hochdeutsch, aus dem er dann und wann doch in ein auffallend melodisches Bayerisch verfällt. Der Roman sei für ihn das Beste, was jemals über Bayern geschrieben wurde. Ein Höhepunkt in Hans Wells bisheriger Karriere war deshalb auch der Auftritt mit seiner ehemaligen Band Biermösl Blosnund dem Schauspieler Jörg Hube in Feuchtwangers Exil-Villa Aurora in Los Angeles. Von 1976 bis 2012 sind Hans Well und seine beiden Brüder Stofferl und Michael als Biermösl Blosn in Bierzelten und den größten Theatern von München, Wien und Berlin aufgetreten. Der Vater der Brüder, ein Hauptschullehrer aus der bayerischen Provinz, hatte seinen insgesamt 15 Kindern das Musizieren beigebracht. Seit einigen Jahren tritt Hans Well nun mit seinen eigenen drei Kindern unter dem Namen „Wellbappn“ auf.

ZEIT ONLINE: Sie haben sich in ihren  Liedtexten jahrzehntelang an der allmächtigen  CSU abgearbeitet. Nun rangieren die Schwarzen in Umfragen weit unter 40 Prozent. Können Sie dem Rest der Republik erklären, was da los ist?

Hans Well: Kaum etwas hat der CSU so geschadet wie ihr radikales Auftreten in der Migrationsfrage. Das Reden über die Flüchtlinge hat nur der AfD geholfen. In  Bayern gibt es viele Flüchtlingshelfer, auch aus dem kirchlichen Umfeld. Die hat die CSU damit verloren. Da hat auch das Kreuzevent vom Söder nichts geholfen.

ZEIT ONLINE: Sie meinen den Kreuzerlass, nach dem in bayerischen Behörden ein christliches Kreuz im Eingangsbereich aufgehängt werden soll …

Well: Die Kirche hat das, ganz richtig, als Wahlkampfmaßnahme eingestuft. Zwischen der CSU und den meisten Bischöfen und Kardinälen herrscht Entfremdung. Selbst alte Respektspersonen aus der CSU wie  Alois Glück haben sich gegen die Migrationspolitik von Seehofer und Söder gewendet.

ZEIT ONLINE: Sie haben  Markus Söder mal als Schmutzler bezeichnet.

Well: Nein, das kommt vom Seehofer. Und ich glaub, er weiß, warum er ihn so nennt. Wie der Söder den Seehofer mithilfe der  Jungen Unionletztes Jahr in Erlangen an die Wand gefahren hat: Seehofer ist zwar nicht nachtragend, aber vergessen tut er nix. Es könnte gut sein, dass Seehofers unpopuläres Verhalten in Sachen Chemnitz oder Maaßen ein einziger Rachefeldzug war. Er marodiert vor sich hin. Nach der Wahl wird von Bayern aus auf jeden Fall ein Raumschiff starten, eine Weltraummission ohne Wiederkehr, und der Kommandant heißt Seehofer.

ZEIT ONLINE: Seehofer wird die Wahl politisch nicht überleben?

Well: Er ist der Sündenbock und der ist bekanntlich kein Herdentier. Es gibt kaum einen unbeliebteren Politiker in Bayern. Seehofer wird für das Desaster der CSU verantwortlich gemacht. Dabei hat das viele Ursachen.

ZEIT ONLINE: Welche meinen Sie?

Well: Etwa die Verkehrspolitik: Die CSU, die ja auch im Bund seit Jahren den Verkehrsminister stellt, hat da für ein Desaster gesorgt. Alles, was mit Autos zu tun hat, wird hemmungslos gefördert. Auch beim Diesel machen die CSU-Verkehrsminister massiv Lobbyarbeit für die Autoindustrie. Viele Zugstrecken in Bayern verlaufen dagegen eingleisig wie vor hundert Jahren, etwa ins Chemiedreieck Burghausen. Dafür wird eine vierspurige Autobahn durchs Isental gebaut, ein enges, idyllisches Tal. Die Windkraft haben unser ehemaliger Heimatminister Söder und Seehofer aus Naturschutzgründen gestoppt.

„Vielleicht gibt’s ein Leben nach der CSU“

ZEIT ONLINE: Was wird da gefressen?

Well: Beste Kulturlandschaft, auf die Bayern so stolz ist. Überall metastasieren Gewerbegebiete raus in die Natur. Diese Entwicklung hat viele Wertkonservative von der CSU zu den Grünen getrieben. Die stehen jetzt in den Umfragen bei 17 Prozent.

ZEIT ONLINE: Was unterscheidet Söder denn von Seehofer?

Well: Dass der Söder noch weniger Haltung hat. Und Seehofer selbst wurde ja als Ministerpräsident schon Drehhofer genannt, weil er öfters seine Meinung wechselte als Lothar Matthäus seine Freundinnen. Genauso räumt Söder jetzt Entscheidungen wieder ab, die er noch vor Kurzem durchgesetzt hatte. Die dritte Startbahn am Münchner Flughafen etwa, oder die Genehmigung einer Skischaukel in einem Naturschutzgebiet. Er hat sich vom Franken-Mastino zum Landesvater gewandelt, auch im Asylbereich. Weil er durch Umfragen gemerkt hat, dass das bloß der AfD hilft. Aber die Kehrtwende haben ihm die Leute nach den Parolen von den angeblichen Asyltouristen nicht abgenommen. Und die CSU-Führung ist ja auch nicht besser. Schon die Erwähnung von Namen wie Dobrindt oder Scheuer sorgt bei neutralem Publikum für brüllendes Gelächter.

ZEIT ONLINE: Ist das nicht traurig für Sie als Gegner, dass die CSU jetzt so zerbröselt?

Well: Es gibt Schlimmeres. Ich lebe, seit ich denken kann, unter der Herrschaft dieser Staatspartei. Vielleicht gibt’s ein Leben nach der CSU.

ZEIT ONLINE: Sie haben gerade zusammen mit Ihrer Frau Sabeeka Gangjee-Well und Ihren drei erwachsenen Kindern ein dokumentarisches Hörspiel mit dem Titel Rotes Bayern veröffentlicht. Ist das Bayern der Revolution, die jetzt ihr 100. Jubiläum feiert, ein alter Sehnsuchtsort von Ihnen?

Well: Wir wollten die Gründer des Freistaats Bayern bekannter machen. Viele von denen sind ja für die Gründung dieses Freistaats, mit dem sich auch die CSU so gern schmückt, umgebracht worden. Besonders imponierend ist der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern, Kurt Eisner, der im öffentlichen Bewusstsein und im Schulunterricht kaum eine Rolle spielt.

ZEIT ONLINE: Eisner war Preuße, Sozialist, Jude, Feuilletonist und unfrisiert. Was fanden die Bayern an ihm?

Well: Er war glaubwürdig und hatte eine Haltung. Als überzeugter Pazifist agitierte er während des Ersten Weltkriegs gegen die Burgfriedenspolitik, zettelte Streiks in der Rüstungsindustrie an. Dafür landete er 1918 in Untersuchungshaft. Er war in den wesentlichen Dingen radikal, in den unwesentlichen ging er Kompromisse ein. Das hat sogar die Bauern überzeugt.

ZEIT ONLINE: „Der Witz ersetzt ihm fast immer das Pathos“, schrieb Victor Klemperer damals über Eisner.

Well: Sein Witz ist beeindruckend, damals redeten ja viele Politiker aus dem Zentrum und der Sozialdemokratie in einem ähnlich pathetischen Ton wie später Hitler. Eisner hingegen hatte Selbstironie. Seine Prämisse für die Revolution war: kein Blutvergießen.

„Bei der Tracht war auch die Tracht Prügel nicht weit“

ZEIT ONLINE: Die Bayern waren in Deutschland nicht nur die Ersten, die am 7. November ihren Monarchen absetzten, es gelang ihnen auch ohne Tote …

Well: Und die Revolutionäre konnten sich hier, anders als in Berlin, sieben Monate lang in unterschiedlichen Konstellationen halten. Der Acht-Stunden-Tag wurde damals eingeführt, das Wahlrecht für Frauen, man versuchte Kirche und Staat zu trennen. Die Politik der Revolutionäre in Bayern war damals sehr fortschrittlich. Gustav Landauer wollte etwa die Oper für alle etablieren, den lehrerzentrierten Unterricht abschaffen. Es ist ungerecht, dass diese Figuren heute als Spinner und Träumer beschrieben werden. Die haben immerhin die Demokratie eingeführt, mit der es nach der Monarchie noch keine Erfahrung gab.

ZEIT ONLINE: Man kennt das Bild vom Lederhosen tragenden Schriftsteller Oskar Maria Graf, von all den vollbärtigen Politikern der Räterepublik. Welche Rolle spielten die Frauen in der Revolution?

Well: Keine unwichtige. Hier am Ammersee, in Riederau, gab es sogar eine Frauenräterepublik. Der päpstliche Nuntius und spätere Papst Pius der XII. berichtete voller Sorge nach Rom, dass sich unter den Anführern der Räte in München auch Frauen von wenig beruhigendem Aussehen befänden, eine von ihnen würde sogar rumkommandieren. Als dann im Frühjahr 1919 die ersten weißen Truppen, die sogenannten Freikorps, gegen die Räterepublik vorrückten, wurden sie in Dachau von den Arbeiterinnen der dortigen Fabriken gestoppt, abgewatscht und in Züge zurück nach Pfaffenhofen gesetzt.

ZEIT ONLINE: Woran scheiterte dann doch die Revolution?

Well: Zum einen war Eisner kein Wahlkämpfer. Er verlor mit der USPD die von der KPD und den Anarchisten boykottierten Wahlen im Januar 1919 krachend. Die Versorgungslage war nach dem 1. Weltkrieg katastrophal, die Erwartungen auf eine schnelle Besserung durch die Volksregierung waren nicht realistisch. Ein Großteil des Bürgertums hatte Angst vor Enteignung. Auf dem Weg zu seiner Rücktrittsrede im Landtag wurde Eisner im Februar von dem rechtsextremen Anton Graf von Arco erschossen. Am Trauerzug nahmen über 100.000 Menschen teil, es kam zu Unruhen, einem Generalstreik, schließlich wurde die Räterepublik ausgerufen. Anfang Mai rückten dann Regierungstruppen mit den Freikorps in München ein und verübten ein überaus blutiges Massaker. Vermeintliche Kommunisten wurden in den Kellern und Hinterhöfen von Giesing, Haidhausen und anderen Arbeitervierteln einfach liquidiert. Es gibt keine genauen Zahlen, aber einige Historiker schätzen die Zahl der Opfer auf bis zu 2.000.

ZEIT ONLINE: Gerade ist ein Film über den Widerstand gegen die Atomwiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf in die Kinos gekommen. War Wackersdorf ein historischer Moment, an dem die revolutionären Traditionen Bayerns wieder aufflackerten?

Well: Der Widerstand kam aus der Mitte der Bevölkerung. Wir sind da oft aufgetreten, sogar bei dem großen Festival mit 100.000 Leuten. Vor unserem Auftritt hatten die Toten Hosen gespielt, wir begannen dann mit einem Landler. Der Großteil des Publikums war fassungslos. Die hielten das für CSU-Musik. Wie sie dann die Liedtexte hörten, fingen die 100.000 an zu jubeln. Das war eine unglaubliche Atmosphäre. Bei diesem Festival ist auch die Freundschaft zu den Toten Hosenentstanden, die damals noch Punk spielten statt kritischer Schlagermusik.

ZEIT ONLINE: Würden Sie Ihre Musik auch als kritischen Schlager bezeichnen?

Well: Bestimmt nicht. Uns graust es vor Bayern-Pop. Der hat mit der Vielfalt der Volksmusik überhaupt nichts zu tun. Volkstümliche Musik ist möglichst globalisiert und einfältig in Text und Melodie. Beim Schreiben der Liedtexte war es mir wurscht, ob diese mehrheitsfähig waren. Und unsere Mischung aus Witz und Schärfe ist auch bei den konservativen Zuhörern gut angekommen. Wir wollten nicht bloß das Publikum im Wiener Burgtheater erreichen, sondern auch die Leute im Bierzelt.

ZEIT ONLINE: Gerade werden in München die ganz großen Bierzelte abgebaut, es war Oktoberfest. Was halten sie von den Massen, die dort in Tracht hinpilgern?

Well: Mei, auch Hamburger kleiden sich gern in Lederhosen, das ist wie Fasching. Offenkundig ist die Suche nach Heimat, Identität und Ursprünglichkeit für viele ein großes Bedürfnis, auch wenn die Lederhose aus Plastik ist. Ich selbst war eher Trachtenverweigerer, habe sie mit einem militant konservativen Denken gleichgesetzt. Bei der Tracht war auch die Tracht Prügel nicht weit. Meine Kinder haben ein unverkrampftes Verhältnis dazu.